Kindesmissbrauch: Versteckte Botschaften in Malereien

In vielen Fällen von Kindesmissbrauch bleibt das Leid der Betroffenen unentdeckt oder unerkannt. Kinder, die sexuellen oder emotionalen Missbrauch erleben, haben oft Schwierigkeiten, ihre Erfahrungen zu verbalisieren und anderen mitzuteilen (-> interessierte Leser/innen finden hier einen Artikel zu diesem Thema). Nicht selten werden sie zudem enorm unter Druck gesetzt, das „Geheimnis“ niemandem zu erzählen. Ein möglicher Weg für Kinder, ihre traumatischen Erlebnisse auszudrücken und zu verarbeiten, ist die Malerei. Dabei verstecken sich in diesen Bildern oftmals kleine Botschaften, die Hinweise auf Kindesmissbrauch geben können.

Exkurs: Entwicklung von Kinderzeichnungen

Um sich in einer Kinderzeichnung auf der Suche nach Auffälligkeiten und möglichen Indikatoren für sexuellen Missbrauch zu machen, ist es laut Kubat zunächst wichtig, das normale Entwicklungsstadium des Kindes zu verstehen. Dazu verweist die Autorin der Publikation „Die Kinderzeichnung als Indikator für sexuellen Missbrauch“ auf Richters Stufentheorie des freien Zeichnens, die drei Hauptphasen umfasst: die Kritzelphase in der frühen Kindheit, die Schemaphase in der mittleren Kindheit und die zweite Schemaphase am Ende der Kindheit. Während die Kritzelphase eher dem Experimentieren und Entdecken der eigenen kreativen Fähigkeiten dient und weniger aussagekräftig ist, sind die Zeichnungen ab der Schemaphase (ca. 4. Lebensjahr) aufgrund ihrer größeren Differenzierung und Aussagekraft bedeutsam, insbesondere auch für die Identifizierung möglicher Anzeichen von sexuellem Missbrauch.

Was auffällig ist – und was entwicklungsbedingt

Vorweg: Die Darstellung von Genitalien in Kinderzeichnungen ist laut dem Handbuch für Erzieher/innen kein Indikator für sexuellen Missbrauch. Kinder setzen sich mit ihren Körpern auseinander und können diese auf ihren Bildern darstellen. Jungen malen manchmal überlange Penisse und Frauen werden häufig mit Brüsten dargestellt. Solange diese Darstellungen nicht übermäßig häufig auftreten, sind sie normal und zeigen nur, dass Kinder ihr Wissen über den menschlichen Körper ausdrücken. Kinder im Vorschul- und frühen Schulalter versuchen oft, die Unterschiede zwischen Männern und Frauen in ihren Bildern deutlich zu machen. Wenn jedoch in den Zeichnungen Symbole auftauchen, die auf sexuellen Missbrauch hinweisen könnten, wie ein Bett ohne Zusammenhang mit Krankheit und ein bedrohlicher Mann mit einem langen Gegenstand, sollte dies genauer untersucht werden.

Kriterien zur Bildbeurteilung

Die gründlichen Untersuchung und Deutung einer Kinderzeichnung beinhaltet laut Parker einige detaillierte Fragen als Leitlinien: Welche Emotion vermittelt das Kunstwerk? Was sticht heraus? Was ist nicht vorhanden? Was impliziert das fehlende Element und welche Bedeutung hat es möglicherweise für das Kind? Was ist zentral dargestellt? Denn Objekte und Personen, die zentral positioniert sind, haben oft eine besondere Bedeutung. Auch Wiederholungen, “zögerndes Malen”, Größenverhältnisse, das Malen auf der Rückseite und dunkle Farben beispielsweise geben Hinweise auf negative oder unangenehme Gefühle, mit denen das Kind immer wieder konfrontiert wird und diese auszudrücken versucht (vgl. Steinhage, 1992).

Praxisbeispiele für Hinweise auf Kindesmissbrauch

Schauen wir uns im Folgenden ein fiktives Beispiel zur Veranschaulichung an: Ein Kind malt ein Bild, welches sich selbst und ihren Vater nebeneinander stehend zeigt. Es erscheint zunächst relativ harmlos, zeigt bei genauerem Hinschauen jedoch pikante Details. So ist der Vater des Kindes mit auffällig großer Hand und dunklen Farben gemalt, zudem sind sowohl Körper als auch Hand des Mannes Zentralaspekte des Bildes. Dazu radierte das Kind seinen/ihren eigenen linken Arm, der den Vater berührt(e), aus. Laut der Literatur kann daraus Folgendes interpretiert werden: Der Vater scheint eine prägnante Rolle im Leben des Kindes zu spielen (Position und Größe der Figur). Zudem werden viele negative Emotionen mit diesem verbunden (dunkle Farben). Dass insbesondere die Hand des Mannes überproportional groß dargestellt wird (Größe der Details), gibt einen Hinweis darauf, dass das Kind Emotionen gegenüber diesen Körperteilen, zum Beispiel durch Erlebnisse, verarbeitet. Das Ausradieren des Armes des Kindes zeigt eindeutig, den Vater nicht berühren zu wollen.

Ein weiteres, fiktives Beispiel ist das Bild eines Kindes, welches sich selbst, weinend und ängstlich, bei Tag und Nacht malt – bei Nacht allerdings an der Hand eines Mannes. Die Emotionen, die dieses Bild vermittelt, stellen Hilflosigkeit und Unterlegenheit dar. Die Botschaft ist ziemlich eindeutig: Das Kind verarbeitet starke negative Gefühle, die es in der Nacht erlebt.

Rahmenbedingungen zur Beurteilung eines eventuellen Kindesmissbrauchs 

Um Kindesmissbrauch eindeutig zu identifizieren, reicht laut dem Handbuch für Erzieher/innen eine Bildinterpretation niemals aus. Zwar sind Zeichnungen Teil eines Kommunikationskontexts, der die Beziehung des Kindes zu seinem Publikum einschließt. Jedoch kann es manchmal vorkommen, dass ein Kind Informationen zurückhält, was die Interpretation erschwert. Eine wichtige Komponente nimmt die gemeinsame Kommunikation mit dem Kind über das Gemalte ein. Besonders achtsam sollte dabei verfolgt werden, wann das Kind zum Beispiel stockend spricht, unsicher wird oder Gefühle nicht zulässt. Eine sinnvolle Deutung sollte zudem den Kontext und die Gesamtzusammenhänge des Kindes miteinbeziehen, wie familiäre Verbindungen, soziale Beziehungen und die allgemeine kognitive Entwicklung. Nicht zuletzt sollte bei Verdacht immer Fachpersonal hinzugezogen werden, um einen möglichen Kindesmissbrauch eindeutig zu identifizieren. 

(Titelbild: Pixabay, Efraimstocher)

AKTUELLER LINK: Interaktiver Report PKS 2013-2022

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