Das schwierige Schicksal der Kinder während der Corona-Pandemie wurde im letzten Jahr und wird immer noch vielerorts diskutiert. Bereits in den ersten Wochen der Krise und der Kontaktbeschränkungen meldeten sich besorgte Experten zu Wort mit Hinweisen auf ein erhöhtes Risiko von häuslicher Gewalt, Kindesmisshandlungen und Kindesmissbrauch. Ausfälle beim bereits vor Corona deutlich überlasteten Jugendamtpersonal würden zu erheblichen Einschränkungen der Kinderschutzmaßnahmen sowie zu reinem Abarbeiten von Kinderschutzmeldungen führen, so z. B. Frau Prof. Dr. Maud Zitelman (Frankfurt University of Applied Sciences) in einem HR Info Interview am 29.03.2020.
Im Laufe des Jahres gab es dann mehr laute Schlagzeilen als konkrete Zahlen. Eine kurze Meldung im Ärzteblatt gab die (kommunalen) Erfahrungswerte der Gewaltschutzambulanz der Charité in Berlin wieder. Dort sah man sich gerade in den Sommermonaten mit einem deutlichen Anstieg der Fallzahlen konfrontiert (z. B. Juni 2020 mit +30% ggü. Juni 2019).
Offizielle Statistik: Wie haben sich die Zahlen entwickelt?
Erst vor ein paar Wochen kam nun eine umfassende Analyse der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendstatistik (AKJStat) an der Technischen Universität Dortmund unter den Namen “Zusatzerhebung der Gefährdungseinschätzungen gemäß § 8a Abs. 1 SGB VIII anlässlich der SARS-CoV-2-Pandemie” heraus. Darin wird die bundesweite Entwicklung der sogenannten 8a-Verfahren (Kinderschutzmeldungen) anhand der Daten der ca. 200 (von 558 möglichen) freiwillig teilnehmenden Gebietskörperschaften mit einem Jugendamt in der Zeit Mai bis Oktober 2020 ausgewertet.
Info: 8a-Verfahren werden von den Jugendämtern bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung eingeleitet. Ein Verdacht kann sich z. B. aus Hinweisen durch Verwandte, Bekannte, Nachbarn, Anonyme Hinweisgeber, Einrichtungen, Jugendamtpersonal selbst, Schule, Kita, Polizei usw. ergeben.
Die Ergebnisse der Auswertung sind unserer Meinung nach nicht ganz einfach zu interpretieren. Ganz kurz zusammengefasst lässt der Bericht folgende “vorläufige” Schlussfolgerungen zu:
- Insgesamt betrachtet entsprechen die Zahlen dem Trend der letzten Jahre und wären so gesehen auch ohne Corona dort angekommen, wo sie heute sind. (Jedoch sind die Vergleichswerte aus den Jahren 2017 – 2019 geschätzt.)
- Bei kommunaler Betrachtung lässt sich diese Aussage allerdings so nicht unbedingt durchgehend aufrechterhalten. Es gibt teils deutliche Unterschiede.
- Die insgesamt fast überraschend konstante Entwicklung der Zahlen stimmt nachdenklich bzw. lässt durchaus einige Theorien bzgl. des wachsenden “Dunkelfeldes” zu.
Die interessierten Leser sollten sich mit dem Bericht, den Ergebnissen und der Methodik ausführlich beschäftigen und ihre eigenen Schlüsse ziehen. Wir möchten an dieser Stelle lediglich ein paar aus unserer Sicht wesentliche Punkte herausarbeiten und kurz kommentieren.
Im Bezug auf die Gesamtentwicklung der Zahlen wird in diesem Schaubild die Abweichung der Werte aus 2020 von den Werten des Vorjahres 2019 und von dem Mittelwert der Jahre 2017-2019 dargestellt. Die Werte stehen für die absolute Anzahl der 8a-Verfahren pro 10.000 unter 18-Jährige.
Auffällig sind hier auf den ersten Blick lediglich die Monate Juni und Oktober mit +15% bzw. +14,15%. In Oktober lag der Wert wohl “weit oberhalb des Erwartungswerts”. Gemessen in absoluten Zahlen reden wir hier übrigens von 6.949 Fällen in Juni und 6.657 im Oktober.
Akute und latente Kindeswohlgefährdung in absoluten Zahlen
Noch etwas greifbarer werden diese Zahlen, wenn wir etwas tiefer in die (demographischen) Details eintauchen. Wie setzen sich die Fälle zusammen? Nehmen wir z. B. den Oktober 2020.
Die gelb markierten Stellen in der Tabelle fassen zum Einen die Fälle, die sich auf unter 14-Jährige Kinder beziehen. (So wird z. B. der Vergleich mit den Standards der Polizeilichen Kriminalstatistik etwas einfacher.) Zum Anderen haben wir die akute und latente Gefährdung von dem Rest abgegrenzt.
So betrachtet hätten wir im Oktober 2020 mit (15,5%+16,5% = ) 32% der Verfahren mit akuter oder latenter Gefährdung als Ergebnis. Das wären dann (6.657 * 0,32 = ) 2.130 Fälle über alle Altersgruppen hinweg.
Kinder unter 14 Jahren machen im Oktober 2020 81,9% der Stichprobe aus. Das wären entsprechend (6.657 * 0,819 = ) 5.452 Fälle. Und sollten sich die akute und latente Gefährdung ca. gleichmäßig über alle Altersgruppen verteilen, könnten wir (5.452 * 0,32 = ) ca. 1.744 Kinder unter 14 in latenter oder akuter Gefahr im Oktober 2020 annehmen. Und da der Bericht ja von einem konstanten Trend der letzten Jahre spricht, könnten wir diese Zahl in etwa einfach für jeden Monat eines Jahres annehmen. Tendenz mit oder ohne Corona steigend!
Tatsächlich sind es genau diese Größen, die unserer Meinung nach die eigentliche Aufmerksamkeit verdienen. Viel mehr als die Frage, ob es während Corona nun mehr oder weniger bekannt gewordene Kindeswohlgefährdungen gab. Wir bewegen uns hier bekanntermaßen in einem Bereich mit einem sehr großen Dunkelfeld. Die reine Schwankung der Fallzahlen hat ohne weitere Dimensionen und Benchmarks im Grunde keine echte Aussagekraft.
Schwierige Interpretation im “Dunkelfeld”
Eine steigende Zahl von bekannten Fällen innerhalb eines Dunkelfelds kann z. B. positiv sein, wenn man annehmen darf, dass durch gute Arbeit der Behörden und dank aufmerksamen Menschen mehr vom Dunkelfeld erfasst würde. Eine fallende Zahl ist mitnichten positiv bei einem konstant anzunehmenden Dunkelfeld. Und bei einem größer werdenden Dunkelfeld wäre eine fallende Zahl eine äußerst schlechte Entwicklung.
Solange wir das Dunkelfeld nicht erfassen können, müssen Statistiken dieser Art also stets im sinnvollen Kontext betrachtet werden, die als eine Art Ersatzmaßstab fungieren. Ein Beispiel. Hätten die obigen Zahlen nicht eine wesentlich stärkere Aussagekraft, wenn wir wüssten, wie sich die Personaldecke bzw. das Arbeitspensum der Jugendämter in den Jahren 2017-2019 und vor allem während Corona entwickelt haben? Hätte man den überhaupt realistisch erwarten können, dass die ohnehin überforderten Jugendämter gerade während der Corona Krise ungeahnte Zeit-Reserven aktivieren, und in denselben 8 Arbeitsstunden pro Tag, trotz Kontaktbeschränkungen, eine erheblich höhere Zahl von Fällen bearbeiten können? Naja.
Wir dürfen gespannt sein auf weitere Zahlen, die uns dieses Jahr erwarten. Und werden versuchen, sinnvolle Perspektiven zu erarbeiten. Hinweise und Ideen sind willkommen.