Seit Jahrzehnten zielen fast alle Forschungen zum Thema Kindesmissbrauch darauf ab, das Ausmaß für die Betroffenen zu ermitteln (->interessierte Leser/innen finden hier eine erste Übersicht zu den Folgen). Andere Gesichtspunkte, wie die Frage nach dem Ursprung, werden eher wenig thematisiert. Und doch ist es so essenziell, sich mit dieser Frage zu beschäftigen. Warum?
Der „Cycle of Violence“ des Kindesmissbrauchs
Bereits 1989 befasste sich die US-amerikanische Psychologin Cathy Spatz Widom mit dem Konzept des sogenannten Cycle of Violence – dem Kreislauf der Gewalt. In ihrer Studie untersuchte sie den Zusammenhang zwischen erlebter und selbst ausgeübter Gewalt und kam zu dem Schluss, dass ein Teil der von Kindesmissbrauch betroffenen Erwachsenen eine Transmission von Misshandlungserfahrungen an die nächste Generation verübt.
Mehr Toleranz für Gewalt gegen Kinder
Dieses Ergebnis aufgreifend, stellt eine Untersuchung des Universitätsklinikums Ulm die Zusammenhänge zwischen selbst erlebten Erziehungsmethoden und der Einstellung zu Erziehungsmethoden dar. Wie sich aus der Abbildung entnehmen lässt, ist die Toleranz für eine gewalttätige Erziehung bei Personen, die selbst Gewalt erlebt haben, 5- bis 10-mal höher (!) als bei Personen, die gewaltfrei erzogen wurden. Besonders der „Klaps auf den Hintern“ scheint dabei eine hohe Zustimmung als Körperstrafe zu erlangen (72,5%). Aber auch der Ohrfeige stimmen immerhin jede Dritte, selbst von Gewalt betroffener Person als angebrachte Erziehungsmethode zu (33,5%). 10% finden es in Ordnung, ein Kind mit einer „Tracht Prügel“ zu bestrafen.

Von der Einstellung zur Tat
Wie viele dieser gewalttätigen Erziehungsmethoden finden jedoch letztendlich in der Praxis statt? Die Datenlage dazu ist gering, was vermutlich damit zusammenhängt, dass eine Erfassung kaum ohne Verzerrung möglich ist. Die nachfolgende Statistik zeigt den Anteil der Eltern, die ihr Kind in den letzten 12 Monaten mit bestimmten „Züchtigungsmaßnahmen“ bestraft haben. Was direkt auffällt: Wieder sind der „Klaps auf den Po“ (40%) und die „Ohrfeige“ (10%) jene beiden Maßnahmen, die am häufigsten genannt wurden. Dies deutet auf einen Zusammenhang zwischen der Einstellung zu gewissen „Körperstrafen” und der tatsächlichen Umsetzung hin. Weiter gaben 4% der Befragten an, ihrem Kind den „Hintern zu versohlen“ sowie <1% „mit einem Stock“ zu bestrafen.

Ein Muster ergibt sich
Vergleicht man nun die oben dargestellten Daten miteinander, lässt sich ein roter Faden erkennen: Hat der Täter/die Täterin in seiner/ihrer Kindheit selbst Gewalt erlebt, kann dies zu einer höheren Toleranz gegenüber körperlicher Bestrafung bei den eigenen Kindern führen als bei Personen, die gewaltfrei erzogen wurden. Zudem scheint es eine Korrelation zwischen der Einstellung zu Körperstrafen und Verübung dieser zu geben.
Die Datenlage deutet also darauf hin, dass eigens erlebter Kindesmissbrauch in vielen Fällen zu selbst verübtem Kindesmissbrauch führen kann.