Sexueller Kindesmissbrauch ist ein schwerwiegendes Problem, das nicht nur tiefgreifende Auswirkungen auf die unmittelbar Betroffenen hat, sondern auch die gesamte Gesellschaft betrifft. Obwohl das Thema in den letzten Jahren vermehrt in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt ist, bleibt es gesellschaftlich weitgehend tabuisiert und Bedarf einer gründlichen Aufarbeitung – denn Veränderung ist kaum in Sicht (-> interessierte Leser/innen findenhier einen Artikel zu diesem Thema).
Der vorliegende Artikel widmet sich einer Studie der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs in Deutschland, welche die Erwartungen und Bedürfnisse von Betroffenen sexuellen Kindesmissbrauchs an die gesellschaftliche Aufarbeitung untersucht hat.
Hintergrund und Design der Studie
Die Studie verfolgt das Ziel, die Stimmen und Erfahrungen der Betroffenen in den Mittelpunkt der politischen und gesellschaftlichen Diskussion zu stellen, um künftige Entscheidungen und Maßnahmen besser an ihren Bedürfnissen auszurichten. Durch eine detaillierte Analyse der Ergebnisse soll ein Beitrag zur effektiveren Aufarbeitung des Problems geleistet und die Präventionsmaßnahmen sowie Entschädigung für die Betroffenen verbessert werden.
Das Forschungsprojekt umfasste zwei Online-Fragebogenerhebungen (2016: n=316; 2018: n=103), 51 teilnarrative Interviews und sechs Fokusgruppen. Die Instrumente richteten sich an Erwachsene, die in ihrer Kindheit sexueller Gewalt erlebt hatten. Die Studienteilnehmer/innen waren hauptsächlich Frauen (84 % bzw. 86 %) im Alter von 31 bis 60 Jahren. Drei Viertel erlebten sexuelle Gewalt in der Familie, während die Hälfte von Täter/innen aus dem sozialen Umfeld betroffen war. In jeweils einem Viertel der beiden Erhebungen waren die Täter/innen aus Institutionen oder organisierten Gruppen, weitere genannte Tatpersonen umfassten u.a. Ausbilder/innen, Therapeut/innen und Pflegeeltern.
Betroffene sexuellen Kindesmissbrauchs haben etwas zu sagen
Im ersten Fragebogen wurde den Teilnehmer/innen die Frage gestellt, ob sie ihre Erfahrungen mit sexuellem Missbrauch bereits einmal geteilt hatten. Die überwiegende Mehrheit (84 %) gab an, bereits darüber gesprochen zu haben, vorwiegend in privaten Situationen sowie in Beratungs-, Therapie- und Selbsthilfekontexten. Dennoch hatte eine beachtliche Minderheit von 50 Personen (16 %) ihre Geschichte noch nicht offenbart. Unter denjenigen, die ihre Geschichte noch nicht geteilt hatten, konnten sich neun Personen vorstellen, an einer öffentlichen Anhörung teilzunehmen. Diese Ergebnisse geben einen Hinweis darauf, das zweifelsfrei Redebedarf besteht, sich aufgrund der Tabuisierung der Gesellschaft, noch laufenden Verfahren, aber auch Angst unzureichend an die Öffentlichkeit gewendet wird.
Vertrauliche Anhörung als Mittel zum Zweck
Mehr als die Hälfte der Teilnehmer/innen des ersten Fragebogens (60 %) wünschen sich bezüglich der Aufarbeitung die Teilnahme an einer vertraulichen Anhörung, während lediglich 13 % diese Möglichkeit entschieden ablehnten. Die restlichen Befragten waren unentschlossen. Das Motiv dafür ist der eigene Beitrag zur Aufarbeitung, ohne öffentlich in Erscheinung treten zu müssen. Die wichtigsten Anforderungen an eine Anhörung waren dabei, dass den Betroffenen genügend Zeit zur Verfügung gestellt wird (83,9%) und, dass sie eine Vertrauensperson an ihrer Seite haben dürften (78,8%). Dass sie hingegen von ausgebildetem Personal wie in einer Fachberatungsstelle begleitet und betreut würden, scheint im Vergleich irrelevant (42,1%). Betroffene, die im familiären Umfeld Missbrauch erfahren hatten, zeigten sich eher bereit, an solchen Anhörungen teilzunehmen, als solche aus institutionellen Kontexten.
So würde Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs gelingen
Im Folgenden wurden die Teilnehmer/innen zu ihrer Einschätzung nach Aspekten einer adäquaten Aufarbeitung befragt. Dies ergab, dass die Befragten besonderen Wert auf Fragen legten, die sich auf ihre individuelle Lebenssituation (z.B. „Wenn Therapie und Beratung überall vorhanden, ausreichend finanziert und die Fachkräfte besser ausgebildet sind“; 88,3%) und die Verbesserung des Kinderschutzes (z.B. „Wenn Kinder und Jugendliche auch bei Gewalt in Familien geschützt sind und nicht allein gelassen werden“; 80,7%) bezogen. Andere Aspekte wurden als weniger wichtig erachtet, obwohl sie ebenfalls hohe Zustimmungsraten erzielten (z.B. „Wenn eine nachhaltige politische und breite gesellschaftliche Debatte geführt wird“; 65,2%). Damit wurde deutlich signalisiert, sich für Bedingungen einzusetzen, die eine individuelle Aufarbeitung der erlebten Gewalt und deren Folgen ermöglichen.
Darüber hinaus wurde gezielt nach der Rolle von Tätern oder Täterinnen und Institutionen gefragt, in denen der Missbrauch stattgefunden hat. Schuldeingeständnisse und Entschuldigungen wurden als weniger bedeutend erachtet (z.B. „Wenn Institutionen sich entschuldigt und Verantwortung übernommen haben“; 49,4%), möglicherweise, weil sie als wenig wirkungsvoll für Veränderungen angesehen werden. Die Zustimmungswerte für diese Aspekte der Aufarbeitung waren deutlich niedriger als für die der oben genannten.
Fazit: Die Ergebnisse verdeutlichen, dass Betroffene ihre persönlichen Erfahrungen und Bedürfnisse in die politische und gesellschaftliche Diskussion einbringen möchten, um die Aufarbeitung und Prävention zu verbessern. Nun sollten sie nur noch die Chance dazu bekommen.