Kindesmissbrauch ruft in der Gesellschaft sowohl intensives Interesse als auch tiefe Besorgnis hervor. Doch abseits der üblichen Diskussionen über dieses Thema gibt es eine spezielle, oft missverstandene Form des Missbrauchs: den sexuellen Kindesmissbrauch im Rahmen organisierter und ritualisierter Gewalt (ORG). Trotz der tiefgreifenden Auswirkungen auf die Opfer existieren bisher nur wenige wissenschaftliche Untersuchungen zu diesem Thema. Ein Forschungsprojekt der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs hat es sich zur Aufgabe gemacht, mehr über die Erfahrungen und Bedürfnisse der Betroffenen herauszufinden. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen, bisher in Fachzeitschriften publiziert, sind in der Publikation „Sexueller Kindesmissbrauch in organisierten und rituellen Gewaltstrukturen“ zusammengefasst.
In einem früheren Beitrag haben wir uns bereits mit einer Studie aus dieser Publikation befasst, die die Kontexte von Gewalterfahrungen und deren psychischen Konsequenzen untersuchte (-> interessierte Leser/innen findenhier den dazugehörigen Artikel). Eine weitere, nicht zu vernachlässigende Studie ist die “Entmystifizierung von rituellem Missbrauch – Einblicke von selbstidentifizierten Opfern und Gesundheitsfachkräften”.
Hintergrund und Ziel der Studie
Das Hauptziel dieser Studie war es, die Strategien und Ideologien der Täter/innen in solchen Gewaltstrukturen zu untersuchen. Zusätzlich wurde der Zusammenhang zwischen den spezifischen Ideologien und den damit verbundenen Gewalthandlungen analysiert. Dazu wurden Daten aus zwei anonymen Online-Umfragen verwendet. Befragt wurden einerseits Betroffene von ORG und andererseits psychosoziale Fachkräfte, die Opfer solcher Gewalterfahrungen betreut haben. Die Analysen fokussierten sich vorrangig auf die Erfassung der Täter/innenideologien und deren Zusammenhänge zu den Gewalterfahrungen der Opfer.
Ergebnisse der Studie: Vorkommen und Zwecke von Ideologien in Bezug auf Kindesmissbrauch
An der Studie nahmen insgesamt 165 Betroffene und 174 psychosoziale Fachkräfte teil. Von den befragten Betroffenen waren 96% weiblich, das durchschnittliche Alter lag bei 40 Jahren und die durchschnittliche Beginnzeit der Gewalterfahrung bei 3 Jahren. Die beteiligten Fachkräfte konnten auf eine durchschnittliche Berufserfahrung von 9 Jahren zurückblicken. Dabei gaben 48% von ihnen an, Schwierigkeiten zu haben, ORG-Erfahrungen korrekt zu identifizieren.
In beiden Gruppen wurde das Auftreten von Ideologien mit einer ähnlichen Häufigkeit von etwa 88% angegeben. Die am häufigsten genannten Ideologien waren „satanischer Kult“ (47% der Betroffenen, 69% der Fachpersonen), „rassistische/faschistische/rechte Gruppe“ (22% der Betroffenen, 35% der Fachpersonen), „Religionen/Freikirchen“ (19% der Betroffenen, 52% der Fachpersonen), „germanischer Kult“ (17% der Betroffenen, 16% der Fachpersonen), „militärische Gruppe“ (13% der Betroffenen, 16% der Fachpersonen) und „Kabbala-Kult“ (1% der Betroffenen, 6% der Fachpersonen).

Als Hauptzwecke dieser Ideologien wurden die „Rechtfertigung von Gewalt“ (91% der Betroffenen, 90% der Fachpersonen), „Rechtfertigung der sexuellen Ausbeutung“ (86% der Betroffenen, 82% der Fachpersonen) und „Aufrechterhaltung von Macht/Kontrolle“ (80% der Betroffenen, 82% der Fachpersonen), „Aufrechterhaltung des Gruppenzusammenhalts“ (68% der Betroffenen, 75% der Fachpersonen) sowie „Versprechen der Erlösung (50% der Betroffenen, 60% der Fachpersonen) identifiziert.

Formen von Gewalt und Kindesmissbrauch im Zusammenhang mit Ideologien
Die Befragten berichteten über verschiedene Formen der erlebten Gewalt. Hierzu gehörten insbesondere „Nahtoderfahrungen“ (96% der Betroffenen, 97% der Fachpersonen), „Isolation mit sensorischer Deprivation“ (93% der Betroffenen, 95% der Fachpersonen), „kommerzielle sexuelle Ausbeutung“ (91% der Betroffenen, 96% der Fachpersonen) und „Produktion von pornografischem Material“ (90% der Betroffenen, 94% der Fachpersonen) sowie „Erzeugung dissoziativer Zustände“ (80% der Betroffenen, 53% der Fachpersonen), „Bestrafung für Ausstiegsversuche“ (78% der Betroffenen, 88% der Fachpersonen) und „Erpressung durch Aufzeichnungen von erzwungener Gewalt gegen andere“ (78% der Betroffenen, 88% der Fachpersonen).

Organisierte und ritualisierte Gewalt: Eine Grauzone?
Schlussendlich bleibt die Frage offen, ob die berichteten Ideologien tatsächliche Glaubenssysteme oder lediglich Strategien der Täter/innen sind. Insbesondere in Familientäter/innen-Gruppen könnte die Präsenz solcher Ideologien stärker sein. Die Tatsache, dass viele Fachkräfte Schwierigkeiten beim Erkennen von ORG-Erfahrungen haben, könnte zudem eine der Hauptursachen für die oft unzureichende Versorgung von Betroffenen darstellen. Ein wichtiger Hinweis in Bezug auf die Studie ist noch, dass die Ergebnisse mit Vorsicht zu interpretieren sind, da die Validität der Aussagen der Teilnehmer/innen nicht abschließend geklärt werden konnte.