In einem unserer vorherigen Artikel wurde das Thema Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche aufgrund einer umfangreichen Studie behandelt. Für eine umfassende Analyse ist es jedoch notwendig, unterschiedliche Perspektiven zu betrachten. Daher fokussiert dieser Artikel nun den Kindesmissbrauch in der evangelischen Kirche. Trotz einer geringeren Datenbasis und einer kleineren Befragtenpopulation in diesem Bereich gibt es insbesondere in Bezug auf die Tatkontexte relevante Erkenntnisse.
Eine zugehörige Studie dazu ist „Sexueller Kindesmissbrauch im Kontext der evangelischen und katholischen Kirche“ von der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs.
Hintergrund der Studie
Mit der Analyse soll zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt innerhalb der katholischen und evangelischen Kirche beigetragen werden. Im Zeitraum von September 2016 bis April 2018 führte die Unabhängige Aufarbeitungskommission bedeutende Arbeiten im Bereich des sexuellen Kindesmissbrauchs durch: Es wurden 650 vertrauliche Anhörungen abgehalten und 254 schriftliche Berichte eingereicht. Von den insgesamt 904 erfassten Fällen lassen sich 65 den kirchlichen Gemeinden und Institutionen, sowohl katholisch als auch evangelisch, zuordnen. Dieser Bericht konzentriert sich speziell auf die 22 Fälle aus dem Umfeld der evangelischen Kirche und den dazugehörigen Freikirchen, von denen fünf Fälle stammen. Bemerkenswert ist, dass diese 22 Fälle ein Drittel (34%) aller im kirchlichen Kontext erfassten Vorfälle darstellen. Diese Verteilung wird auch durch andere Studien gestützt.
Erster Überblick aller Tatkontexte
Innerhalb der evangelischen Kirche ist der Gemeindekontext am stärksten repräsentiert, wobei ihm 50% der Missbrauchsfälle zugeschrieben werden können. Die restlichen 50% teilen sich auf, wobei 18% der Fälle innerhalb der Pfarrfamilie im Pfarrhaus auftreten und 32% in Heimen verzeichnet werden. Interessanterweise sind in den Einrichtungen der evangelischen Kirche 50% der Opfer Mädchen, wohingegen in der katholischen Kirche laut dieser Stichprobe der Anteil weiblicher Betroffener bei 39,9% liegt.
Im Fokus: Kindesmissbrauch in der evangelischen Gemeinde
Im evangelischen Gemeindekontext wurden somit insgesamt elf Missbrauchsfälle registriert. Von diesen betroffenen Personen waren sechs männlich und fünf weiblich, während die Täter durchweg männlich waren. Das Alter der Betroffenen während der Anhörung variierte von Mitte 30 bis Ende 60. Der Missbrauch begann durchschnittlich im Alter von zwölf Jahren, was im Vergleich zu anderen Kontexten spät ist, und dauerte durchschnittlich 1,8 Jahre. In 64% der Fälle dauerte der Missbrauch weniger als ein Jahr, während er in 36% bis zu acht Jahre andauerte. Im Vergleich zur katholischen Gemeinde ist die Missbrauchsdauer verkürzt, was auf strukturelle Unterschiede in der Jugendarbeit hindeuten könnte.
Im Fokus: Kindesmissbrauch im evangelischen Pfarrhaus
Im Tatkontext Pfarrhaus innerhalb der evangelischen Kirche repräsentieren vier weibliche Betroffene 21% des Fallsamples. Hierbei verschmelzen innerfamiliärer und institutioneller Missbrauch, da der Täter gleichzeitig als Vater und entweder als Gemeindepfarrer oder Gemeindevorstand fungierte. Das Durchschnittsalter zu Beginn des Missbrauchs in diesem Kontext liegt bei 7,3 Jahren, wobei die Altersspanne zwischen drei und zwölf Jahren variiert. Dieses Alter ist niedriger im Vergleich zum Gemeindekontext, wo der Missbrauch im Durchschnitt mit 12 Jahren beginnt. In der katholischen Gemeinde beginnt der Missbrauch im Durchschnitt mit 8,4 Jahren.
Ein weiterer signifikanter Unterschied zeigt sich in der Dauer des Missbrauchs. Im Pfarrhaus dauert der Missbrauch durchschnittlich 5,9 Jahre, was die längste Missbrauchsdauer in jeglichem kirchlichen Kontext darstellt. Zum Vergleich: In der evangelischen Gemeinde beträgt sie 1,8 Jahre, in der katholischen Gemeinde 4,2 Jahre. Dies weist auf die besonderen Gegebenheiten im Pfarrhaus hin, wo das Kind dem Täter/der Täterin ständig verfügbar ist. Dies ermöglicht nicht nur einen früheren Beginn des Missbrauchs, sondern auch eine längere Dauer im Vergleich zu anderen kirchlichen Kontexten.
Im Fokus: Kindesmissbrauch im evangelischen Heim
Im Tatkontext “Heim” der evangelischen Kirche gibt es sieben Betroffene, die 35% der Missbrauchsfälle repräsentieren. Dies ist ein leicht höherer Anteil im Vergleich zu den 34% in katholischen Heimeinrichtungen. Von diesen sieben Betroffenen sind fünf Männer und zwei Frauen. Alle Betroffenen sind zwischen Ende 40 und Mitte 50 Jahre alt zum Zeitpunkt der Anhörung.
Das durchschnittliche Alter zum Beginn des Missbrauchs in diesem Kontext ist 4,83 Jahre, welches das niedrigste aller Missbrauchskontexte ist. Im Vergleich dazu liegt das Durchschnittsalter zum Beginn des Missbrauchs in katholischen Heimen bei 6,7 Jahren. Die Kinder erlebten den Missbrauch im Schnitt 4 ganze Jahre lang.
Besonders auffällig ist, dass fünf der sieben Betroffenen von Mehrfachbetroffenheit berichten. In einem Fall begann der Missbrauch bereits vor der Heimunterbringung und setzte sich während und nach dem Heimaufenthalt mit verschiedenen Täter/innen fort. Ein anderer Fall von Mehrfachbetroffenheit involviert mehrere Täter/innen während des Heimaufenthalts, einschließlich Hausmeister/innen, Pfarrer/innen, Gemeindemitgliedern und anderen Jugendlichen. Vier Betroffene berichteten über sexuellen Missbrauch durch Gleichaltrige oder Jugendliche.
Fazit: Die Studie zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs zeigt deutlich, dass auch in der evangelischen Kirche erhebliche Probleme existieren. Während der Missbrauch in der katholischen Kirche häufiger in den Medien thematisiert wird, darf der in der evangelischen Kirche nicht marginalisiert oder vernachlässigt werden. Beide Kontexte benötigen gleichwertige Beachtung, um sicherzustellen, dass alle Betroffenen gehört werden und präventive Maßnahmen in allen Kirchengemeinschaften umgesetzt werden.