Kindesmissbrauch und das Problem Psychotherapie

53% der 2531 Befragten in Deutschland sind laut des Kompetenzzentrums Kinderschutz (Baden-Württemberg) und der Universitätsklinik Ulm der Auffassung, dass das Gesundheitswesen stärker auf den Umgang mit von sexuellem Missbrauch betroffenen Kindern vorbereitet sein sollte. Denn trotz Beratungsstellen, Präventionsprojekten und co. vertritt die Mehrheit die Meinung, es würde nicht genug getan, um Kindesmissbrauch zu verhindern und Betroffenen zu helfen. Ein essenzielles Problem dieser Thematik: Psychotherapie und der Mangel an Behandlungsplätzen.

Warum Betroffene von Kindesmissbrauch so dringend Hilfe benötigen

Menschen, die in der Kindheit schwere Belastungen wie sexuelle Gewalt erlitten haben, zeigen ein vielfach erhöhtes Risiko für Suizidalität und Suchtentwicklung. Und auch Schlafstörungen, Angststörungen, Depressionen und Essstörungen zählen zu den häufigsten psychischen Störungen nach erlebtem Kindesmissbrauch (-> interessierte Leser/innen finden hier einen Artikel zu diesem Thema). Professionelle Hilfe ist also unabdingbar. Doch dabei stehen viele Betroffene vor einer großen Hürde: Denn abgesehen davon, dass sie oftmals gar nicht Imstande sind, das Geschehene einzuordnen und sich selbst Hilfe zu suchen, herrscht ein immenses Defizit an Behandlungsplätzen. Aktuell müssen laut der Bundespsychotherapeutenkammer Patient/innen mindestens drei bis neun Monate auf den Beginn einer Behandlung warten. Für Betroffene oft unzumutbar. 

Zugang zu und Inanspruchnahme psychotherapeutischer Hilfe nach Kindesmissbrauch

Eine erste Studie zu diesem Thema zeigt, dass die Mehrheit aller Betroffenen keine psychotherapeutische Hilfe beansprucht, obwohl eine offizielle Diagnose vorliegt. So wurden 241 von Kindesmissbrauch betroffene junge Menschen im Alter zwischen 4 und 17 Jahren befragt, die entweder eine Posttraumatische Belastungsstörung PTBS entwickelt haben (N = 95) oder andere psychische Störungen aufwiesen (N = 146). Aus den Ergebnissen geht hervor, dass 65 % der Kinder und Jugendlichen in beiden Untersuchungsgruppen derzeit keine psychiatrischen und psychotherapeutischen Hilfen nutzen (können). Von den Studienteilnehmern, die eine PTBS haben, hatten 43 (45 %) vor der Teilnahme an der Studie noch nie eine Therapie in Anspruch genommen.

Quelle: Münzer et al., 2018, “Usual Care for Maltreatment- Related Pediatric Posttraumatic Stress Disorder in Germany”

Eine weitere Studie deckt auf, dass obwohl fast alle der dort 322 befragten Kinder im Alter von 4 bis 17 Jahren Missbrauch erlebten, zum Zeitpunkt der Befragung nur 19,8 % psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung in Anspruch nahmen. Dahingegen gaben etwas mehr als 60% an, dass sie zumindest aus einem Beratungsbereich Hilfe erhalten hätten.

Quelle: Ganser et al., 2016, “Kinder und Jugendliche mit Misshandlungserfahrungen: bekommen sie die Versorgung, die sie brauchen?”

Die anzunehmende Mangelversorgung wird durch eine letzte Studie weiter gestützt. Diese ergab, dass von 70 6- bis 17-jährigen Kindern 60 % zum Zeitpunkt der Studienteilnahme die Kriterien einer psychischen Störung nach ICD-10 erfüllten, jedoch über 60 % der psychisch auffälligen Kinder und Jugendlichen keine missbrauchsbezogene therapeutische Hilfe in Anspruch nahmen bzw. keinen Zugang zu ihr haben.

Hürden bei der Beanspruchung einer Therapie 

Nicht nur der Mangel an Behandlungsplätzen spielt bei der tatsächlichen Umsetzung einer Therapie eine Rolle. So gaben in einem Bericht der Initiative Phoenix – Bundesnetzwerk für angemessene Psychotherapie e. V. von 1334 Therapiebedürftigen mehr als ein Drittel der Betroffenen an, das Antragsverfahren bei der jeweiligen Krankenkasse verunsichernd zu finden und insbesondere aus finanziellen Gründen eine ambulante Psychotherapie unterbrochen zu haben. Die Untersuchung zeigte zudem, dass niederschwellige Angebote für schwer und komplex traumatisierte Menschen fehlen würden und die Wartezeiten auf einen Therapieplatz zu lang seien.

Fazit: Die aktuelle Datenlage verdeutlicht das negative Ausmaß der therapeutischen Versorgung zulasten der Betroffenen. Es braucht mehr ausgebildete Psychotherapeut/innen mit Kassenzulassung, einen Ausbau flächendeckender Fachberatungsstellen und leichtere Zugänge, um den Kindern und Jugendlichen auch nur ansatzweise die Hilfe geben zu können, die sie benötigen. 

AKTUELLER LINK: Interaktiver Report PKS 2013-2022

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