“223100” lautet der Schlüssel in der Polizeilichen Kriminalstatistik, unter dem die “hinreichend konkretisierten” Missbrauchsfälle von Kindern in der Bundesrepublik Deutschland jedes Jahr erfasst werden. “Kinder” meint per offizielle Definition “Menschen unter 14 Jahren”. “Erfasst” bedeutet, dass es sich nur um “hinreichend konkretisierte” Fälle handelt, die Erfüllung aller Tatbestandsmerkmale einer Strafrechtsnorm gewährleisten (Angaben zum Tatort und der Tatzeit / dem Tatzeitraum – mindestens das Jahr).
Bereits hier kündigt sich ein grundlegendes Problem an. Oder kannst Du Dir viele unter 14-Jährige vorstellen, die gegenüber der Polizei oder anderen Institutionen/Personen den Tatbestand ihrer Gefährdung durch ihre Eltern oder fremde Erwachsene hinreichend konkretisieren können? Mit anderen Worten, die Zahlen, die wir gleich besprechen, sind nur die Spitze des Eisbergs. Das ist auch den polizeilichen Behörden klar. Die Bundesregierung selbst verweist auf eine hohe Dunkelziffer.
In dem Buch “Deutschland misshandelt seine Kinder” von Michael Tsokos und Saskia Guddot wird in diesem Kontext in der Einleitung die Zahl 200.000 als Expertenmeinung zitiert. Im Vergleich zu der offiziellen Zahl von ca. 3.500 erfassten Fällen pro Jahr wäre dies ein Aufschlag von rund 5.700%. Visuell kann man sich das in etwa so vorstellen.
Doch bleiben wir zunächst bei den offiziellen Zahlen. Wie in dem Chart zu erkennen ist, wurden für das Jahr 2019 deutschlandweit 3.430 Misshandlungsfälle erfasst. Die erste interessante Frage ist, wie hat sich diese Zahl (absolut) in den letzten Jahren entwickelt. Dazu haben wir uns die Polizeiliche Kriminalstatistik der Jahre 2013-2019 vorgenommen. Das Ergebnis ist, dass die Zahl seit Jahren um weniger als +/- 10% um den Wert 3.500 schwankt. Sie bewegt sich scheinbar nicht.
Die nächste naheliegende Frage ist, ob und wie die Entwicklung der Zahl der Fälle mit der Veränderung der Bevölkerung bzw. der Zahl der Kinder unter 14 Jahren zusammenhängt. Dazu haben wir die Zahl der Fälle pro 100.000 Kinder berechnet. Das Ergebnis ist fast identisch. Zwischen 2013 und 2019 haben wir eine Veränderung um -9% von 35,74 auf 32,20 Fällen pro 100.000 Kinder. Dazwischen schwankt die Entwicklung ein wenig.
Bis hierhin ist es schon faszinierend, wie “glatt” diese Zahlen doch sind. Erstaunlich, wie sehr dieser Verlauf mit dem konstanten Suchinteresse visuell “korreliert”, auf das wir bereits in einem anderen Beitrag verweisen. Hier nochmal die Auswertung der Suchanfragen zum Thema “Kindesmisshandlung” bei Google.
Lässt sich etwa die simple Hypothese aufstellen: “konstantes öffentliches Interesse = konstante Zahl der erfassten Fälle”? Wie dem auch sei, diese eindimensionale Betrachtung der Statistik, auf die man im Grunde auch überall sonst im Netz stößt, liefert keine weitergehenden Erkenntnisse. Wir werden auf diesen Seiten nach und nach versuchen, aufschlussreichere Perspektiven zu finden.
Zwei Beispiele vorweg. Die oben dargestellte Homogenität der bundesweiten Fallzahlen findet sich nicht in der länderspezifischen Betrachtung wieder. Die Unterschiede und deren Verlauf in den Bundesländern sind zum Teil erstaunlich. Man nehme z. B. nur die Auswertung der Fälle pro 100.000 Kinder und Bundesland in 2019. Wir erhalten ein völlig neues Bild der Situation.
Zwei spontane Fragen für weitere Analysen. Warum gibt es jeweils so stark ausgeprägte Ähnlichkeiten bei den Ländern in Süd, West, Ost, Nord? Und ist die Höhe der erfassten Fälle angesichts der sehr hohen Dunkelziffer positiv oder negativ zu bewerten? Sind die 15,33 Fälle pro 100.000 in Baden-Württemberg gegenüber 76,89 in Berlin ein deutlicher Vorsprung bei der Bekämpfung des Problems oder doch eher ein Zeugnis des erfolgreichen Wegschauens, weil eben viel zu wenige Fälle bekannt werden?
Das zweite Beispiel führt uns schon ein wenig in die Richtung der Ursachenforschung. Warum scheint die Situation (zumindest) auf der Bundesebene still zu stehen. Wird denn nichts unternommen? Das kann man so wirklich nicht sagen. Nehmen wir z. B. die “Ausgaben für Kinder- und Jugendhilfe” und daraus den Posten “Kinder-/Jugendschutz,Förd.d.Erziehung i.d.Familie”. Zwischen 2013 und 2019 sind die Ausgaben in diesem Bereich um 57% gestiegen von 578 Mio. auf 910 Mio. Euro. Macht es Sinn, dass diese “Investitionen” scheinbar keinen Effekt auf die Aufklärung hatten bzw. woran liegt das genau?
Diesen und ähnlichen Fragen werden wir uns in weiteren Beiträgen dieser Art widmen. Bei Interesse gerne in der Sidebar für den Newsletter anmelden und/oder auf sonstigen Wegen für mehr Aufmerksamkeit für dieses wichtige Thema sorgen.