Mediale Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs: Darstellung von Betroffenen nicht angemessen

Kindesmissbrauch öffentlich enttabuisieren – das ist eines der großen Ziele der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs. Eine wichtige Komponente nehmen in diesem Zusammenhang die Medien ein, da sie eine bedeutende Rolle bei der Informationsvermittlung spielen. Durch eine verantwortungsvolle und sensible Berichterstattung können sie dazu beitragen, das Bewusstsein für das Thema zu schärfen, Vorurteile abzubauen und Betroffenen eine Stimme zu geben.

Allerdings offenbart eine Studie der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs in Deutschland, welche sich auch schon mit den Erwartungen und Bedürfnissen von Betroffenen sexuellen Kindesmissbrauchs an die gesellschaftliche Aufarbeitung befasste (-> interessierte Leser/innen findenhier einen Artikel zu diesem Thema), dass Betroffene häufig frustriert sind über die Art und Weise, wie Medien über das Thema berichten.

Werden Betroffene von Kindesmissbrauch nach eigener Einschätzung angemessen dargestellt?

Ein zentrales Anliegen der Untersuchung bestand darin, herauszufinden, wie Betroffene ihre eigene Darstellung in den Medien wahrnehmen und einschätzen. Die Teilnehmer/innen wurden gebeten, ihre persönliche Meinung darüber abzugeben, wie sie die mediale Repräsentation von Betroffenen empfinden. Die Ergebnisse zeigen klar, dass sich die meisten Betroffenen in den Medien nicht adäquat repräsentiert fühlen (74 von 103 Befragten; 71,8%). 

Quelle: „Werden Betroffene in den Medien angemessen dargestellt?“ I Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs I S. 102

Die Befragten bemängelten, dass in den Medien nicht genügend auf die Betroffenen selbst eingegangen werde, sondern der Fokus eher auf den Täter/innen liege. Sie wünschen sich eine Berichterstattung, die stärker ihre Perspektive berücksichtigt, da ihnen oft mit Unverständnis begegnet werde. Ein Hauptkritikpunkt besteht darin, dass die Darstellung der Betroffenen als stigmatisierend empfunden werde, da sie als Opfer, schwer geschädigt und psychisch krank dargestellt würden. Den Betroffenen fehlt eine Würdigung ihrer Stärke und ihrer Bewältigungsleistungen. Für die Befragten steht dabei weniger die Präsenz in den Medien im Vordergrund, sondern vielmehr die Qualität der Berichterstattung.

Kommen Betroffene in der Öffentlichkeit ausreichend zu Wort?

Direkt an diese kritische Sichtweise schließt eine weitere an: Die Mehrheit der Betroffenen (78 von 103 Befragten; 75,7%) bemängelt, dass sie in der Öffentlichkeit nicht genügend Gehör finden. Es wurden zahlreiche Gründe angeführt, die teilweise in der Art der Berichterstattung und dem Interesse der Medien liegen, welche als “oberflächlich und sensationell” beschrieben wurde. Allerdings wurden auch Gründe genannt, die bei den Betroffenen selbst zu finden sind. Die Äußerungen der Betroffenen werden nach wie vor durch Stigmatisierung und Tabuisierung erschwert. Einerseits wird den Betroffenen nicht immer Glauben geschenkt, andererseits kann das Sprechen über das Erlebte weitere Konsequenzen haben.

Quelle: „Kommen Betroffene in der Öffentlichkeit ausreichend zu Wort?“ I Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs I S. 103
Welche Art der Präsenz in den Medien ist am besten geeignet?

Die Befragten hoben zwei Aspekte der Berichterstattung hervor, die sie als angemessen ansehen: persönliche Interviews (82,5%) und objektive Reportagen (80,6%). Allerdings befürwortet auch etwa ein Drittel der Teilnehmer (35%) eine emotionale und bewegende Art der Berichterstattung.

Quelle: „Welche Art der Präsenz in den Medien finden Sie am besten geeignet (…)?“ I Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs I S. 104

Für die Befragten ist es von größter Bedeutung (87,4 %), dass die Medien die Folgen sexueller Gewalt in der Kindheit und Jugend vermitteln und den Bedarf an therapeutischer Hilfe, insbesondere Traumatherapie (69,9 %), verdeutlichen. Zudem soll das Versagen staatlicher Unterstützung (z.B. Schwierigkeiten bei Anträgen im Rahmen des OEG, mit der Justiz oder dem Fonds sexueller Missbrauch) (53,4 %) der Öffentlichkeit bewusst gemacht werden. Für viele ist es ebenso wichtig, die Vielfalt der sexuellen Gewaltformen aufzuzeigen und das begangene Unrecht klarzustellen (48,5 %). Von den Medien wird erwartet, dass sie über den Zugang zu Hilfe, Maßnahmen zum Kinderschutz und – seltener – Möglichkeiten der Selbsthilfe sowie Organisation von Betroffenen informieren. Dabei kam erneut das Motiv der gesellschaftlichen Aufklärung zum Vorschein.

Bezeichnung der Betroffenen von Kindesmissbrauch (in den Medien)

Seit Beginn der öffentlichen Debatte über sexuelle Gewalt in Kindheit und Jugend diskutieren Betroffene, ob der Begriff “Opfer” angemessen ist oder ob es besser wäre, von “Betroffenen” oder “Überlebenden” zu sprechen. Anhand der Ergebnisse der Fragebogenstudie lässt sich diese Frage nicht eindeutig klären. Die befragten Personen bevorzugen den Begriff “Überlebende” (35 von 103 Befragten; 33,9%) gegenüber „Betroffene“ (30 von 103 Befragten; 29,1%). Nur wenige wollen lieber als “Opfer” (7 von 103 Befragten; 6,8%) bezeichnet werden. Die eher juristischen Termini “Geschädigte” (9 von 103 Befragten; 8,7%) bzw. „Verletzte” (6 von 103 Befragten; 5,8%) wurden nur selten genannt.

Quelle: „Bezeichnungen für Personen, die in der Kindheit sexuelle Übergriffe erlebt haben“ I Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs I S. 106

Fazit: Die Studie der Unabhängigen Kommission zeigt, dass Betroffene von sexuellem Kindesmissbrauch sich in den Medien unzureichend und stigmatisiert dargestellt fühlen. Sie wünschen sich eine angemessene Berichterstattung, die einen personalisierteren Charakter aufweist, sowie eine stärkere Betonung von Aufklärung und Unterstützung. Auch die Bezeichnung der Betroffenen bleibt umstritten.

AKTUELLER LINK: Interaktiver Report PKS 2013-2022

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