Sexueller Kindesmissbrauch wird oftmals – zumindest im ersten Moment – mit männlichen Tätern in Verbindung gebracht. Frauen, die Kindern Gewalt zufügen, stellen in der Gesellschaft fest verankerte Geschlechterbilder infrage und werden immer noch tabuisiert. Dabei gibt es einige Evidenz für die Relevanz von Frauen im Kontext Kindesmissbrauch, sogar innerhalb der eigenen Familie ( -> interessierte Leser/innen finden hier einen Artikel zu diesem Thema).
Ein weiteres Problem: Die wissenschaftlichen Erkenntnisse zu diesem Thema sind lückenhaft. Viele Studien fokussieren sich auf jene Frauen, die bereits Täterinnen geworden sind, das bedeutet sexuellen Kindesmissbrauch begangen haben und strafrechtlich belangt wurden. Folglich gibt es kaum zuverlässiges Wissen über noch nicht straffällig gewordene Frauen mit pädophilen Interessen oder anderen Motiven, sexuellen Kindesmissbrauch zu begehen.
Die Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs unterstützte deshalb ein 1,5 Jahre andauerndes Forschungsprojekt mit dem Ziel, diese Wissenslücken zu schließen.
Kontext Betroffene: Merkmale der Person und der Tat(en)
Das Forschungsprojekt startete mit einer Befragung von 212 von Kindesmissbrauch Betroffenen, darunter 60% Frauen, 40% Männer und eine Person, die sich selbst als „anders“ definiert. Diese ergab, dass die heute Erwachsenen im Mittel mit 6 Jahren zum ersten Mal sexuellen Missbrauch durch eine oder mehrere weibliche Person(en) erlebt haben. 60% sagten aus, nicht nur mehrmals, sondern auch jahrelang (durchschnittlich 7 Jahre) missbraucht worden zu sein.
Besonders auffällig ist wiederholt die Nähe zur Täterin: Etwa 20% der Befragten gaben an, dass die Täterin in einem betreuenden oder erziehenden Verhältnis zu ihnen gestanden habe, ungefähr genauso viele waren dem Freundes- und Bekanntenkreis zuzuordnen. Bei 62 % der Betroffenen wurde der sexuelle Missbrauch durch die Mutter ausgeübt. Schlussendlich nannten etwa 51% der Teilnehmenden, dass der Missbrauch durch organisierte Tatpersonengruppen geschah.
Weiterhin wurde auf die Relevanz des Hauptthemas eingegangen: So beschrieben die Betroffenen, dass sexueller Missbrauch durch Frauen für sich selbst, aber auch für ihr Umfeld, schwieriger zu erkennen sei als durch männliche Personen. Zudem benannten sie einige wahrgenommene Unterschiede zwischen sexuellem Missbrauch durch weibliche und männliche Tatpersonen, darunter eine subtilere Vorgehensweise seitens der Täterinnen.
Kontext potenzielle Täterinnen: Soziodemographische Daten
Weiter lag der Fokus des Projekts auf der Befragung von Frauen, die sexuelles Interesse an Kindern zeigen. Die Gesamtstichprobe der Umfrage bestand aus 52 Teilnehmerinnen mit einem Durchschnittsalter von 33,2 Jahren. 56% der Frauen wiesen einen hohen Bildungsabschluss, die Allgemeine Hochschulreife, auf, 17% die Realschulreife und 25% einen Hauptschulabschluss. Zum Zeitpunkt der Befragung war etwa die Hälfte (54%) in einer festen Partnerschaft, eine Teilnehmerin berichtete von einer Beziehung zu einer minderjährigen Person im Alter von 12 Jahren.
Angaben zur psychischen Gesundheit der Frauen
Im Folgenden wurden die Frauen zu ihrem psychischen Gesundheitsstatus befragt. Vorab sollte erwähnt werden, dass über die Hälfte (60%) der Teilnehmerinnen Hinweise auf die Diagnose einer pädophilen Störung zeigten. Dabei handelt es sich dem ICD-10 zufolge um eine „sexuelle Präferenz für Kinder, Jungen oder Mädchen oder Kinder beiderlei Geschlechts, die sich meist in der Vorpubertät oder in einem frühen Stadium der Pubertät befinden.“
Unabhängig davon gaben insgesamt 39% der Teilnehmerinnen an, jemals mit einer oder mehreren der folgenden psychischen Störungen diagnostiziert worden zu sein: Depressionen (75%), Angststörungen (35%), Posttraumatische Belastungsstörungen (30%), Persönlichkeitsstörungen (25%), Zwangsstörungen (15%), bipolare Störungen (5%), schizoaffektive Störungen (5%), Autismus (5%), dissoziative Störungen (5%), Essstörungen (5%), Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (5%), Münchhausen- by-Proxy-Syndrom inkl. Münchhausen-by-Adult-Proxy-Syndrom (5%) und Drogenmissbrauch (5%).
Merkmale des sexuellen Interesses an Kindern
Nun sollten die Befragten ihr Interesse an den Kindern genauer definieren. Dabei konnte eine Tendenz zu der Altersgruppe 5 bis 10 Jahre ermittelt werden, wobei sich 58% der Befragten zu Mädchen und 48% zu Jungen hingezogen fühlen. In der Altersgruppe 0 bis 4 Jahre ergibt sich ein ähnliches Muster (Mädchen 40%, Jungen 37%). Nur in der Pubertät (11 bis 13 Jahre) dominierst das männliche Geschlecht (42%) gegenüber dem weiblichen (31%).
(-> Hinweis: Mehrfachantworten möglich.)
Im weiteren Verlauf gaben die Befragten an, dass das sexuelle Interesse an Minderjährigen im Alter von ca. 17 Jahren erstmalig auftrat. Dabei handelt es sich in 10% der Fälle um „Kind-fokussiertes“ Interesse, 90% gaben an, sich auch zu Erwachsenen hingezogen zu fühlen. Abschließend stimmte die Mehrheit mit 58% zu, ihr sexuelles Interesse an Kindern eher nicht ändern zu wollen, wohingegen 30% bereits professionelle Hilfe in Anspruch genommen haben.
Die Studie weist abschließend auf einen wichtigen Punkt hin: Obwohl sich gesellschaftlich wie auch wissenschaftlich die Annahme, dass sexuelles Interesse an Kindern durch Frauen eine Seltenheit bildet, etabliert hat, konnten die 52 Teilnehmerinnen mit einer gewissen Leichtigkeit rekrutiert werden – das bedeutet, ohne für die Studie aufwendig öffentlich geworben zu haben. Aufgrund der weit verbreiteten Vorstellung, dass sexuelles Interesse an Kindern ein ausschließlich männliches Phänomen ist und aufgrund der Studienergebnisse wird die Relevanz von Frauen im Kontext von sexuellem Kindesmissbrauch wahrscheinlich unterschätzt.